HNA-Spezial: Der deutsche Herbst 1977

Published on March 2017 | Categories: Documents | Downloads: 36 | Comments: 0 | Views: 176
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Der „Deutsche Herbst“ im
Terrorjahr 1977 dauerte
mehr als sechs Wochen.
Eine Chronologie:
• 5. September: Arbeitge-
berpräsident Hanns Mar-
tin Schleyer wird in Köln
von einem Kommando
der Roten Armee Fraktion
(RAF) entführt. Schleyers
Fahrer und drei Leibwäch-
ter sterben im Kugelha-
gel. Eine sofort ausgelöste
Großfahndung bleibt
ohne Erfolg. In Bonn tritt
ein „Großer Krisenstab“
unter Leitung von Bun-
deskanzler Helmut
Schmidt (SPD) zusam-
men.
• 6. September: In einem
ersten von mehreren Ulti-
maten an die Bundesre-
gierung drohen die Ent-
führer mit der Ermor-
dung Schleyers, falls
nicht elf RAF-Häftlinge
freigelassen und an einen
Ort ihrer Wahl ausgeflo-
gen würden.
• 7. September: Die Regie-
rung verordnet eine „Kon-
taktsperre“ für inhaftier-
te RAF-Mitglieder, die
Ende des Monats in einem
Eilverfahren auch gesetz-
lich beschlossen wird.
• 9. September: Ein Hin-
weis auf Schleyers erstes
Versteck in einem Hoch-
haus in Erftstadt-Liblar
südwestlich von Köln
wird übersehen.
• 13. Oktober: In Abspra-
che mit der RAF kapern
vier Palästinenser die
Lufthansa-Maschine
„Landshut“ mit 91 Men-
schen an Bord. Die Luftpi-
raten bekräftigen die For-
derungen der Schleyer-
Entführer. Der über 9000
Kilometer lange Irrflug
endet am 17. Oktober in
Mogadischu (Somalia).
Am Tag zuvor hatten die
Terroristen in Aden (Je-
men) Flugkapitän Schu-
mann erschossen.
• 16. Oktober: Das Bun-
desverfassungsgericht
weist einen Eilantrag von
Schleyers Familie ab, mit
der die Regierung zur
Freilassung der RAF-Ge-
fangenen gezwungen
werden sollte.
• 18. Oktober: Kurz nach
Mitternacht stürmt die
Anti-Terroreinheit GSG 9
die Maschine und befreit
die Geiseln unversehrt.
Bei der Aktion werden
drei Terroristen getötet.
Schmidts Krisenmanager,
Staatsminister Hans-Jür-
gen Wischnewski, meldet
dem Kanzler telefonisch:
„Die Arbeit ist erledigt.“
Wenige Stunden danach
begehen die RAF-Häftlin-
ge Andreas Baader, Gud-
run Ensslin und Jan-Carl
Raspe in Stuttgart-
Stammheim Selbstmord.
• 19. Oktober: Schleyers
Leiche wird mit Kopf-
schüssen im Kofferraum
eines Autos in Mülhausen
(Elsass) gefunden. (dpa)
Chronik
eines Dramas
Serie: Der Deutsche Herbst (Teil 1)
NEUE SERI E
Sechs Wochen im Herbst
Sechs quälend lange Wochen
dauerte das Geiseldrama um
den entführten Hanns-Martin
Schleyer, die bislang härteste
Herausforderung, der sich
der deutsche Rechtsstaat ge-
genübersah. In den nächsten
sechs Wochen werden wir an
dieser Stelle einen Blick zu-
rückwerfen auf den deut-
schen Herbst 1977. Lesen Sie
unter anderem:
• Die Rote Armee Fraktion
(RAF) - Geschichte eines Irr-
weges
• Der Krieg der Frontsoldaten
- wie die Regierenden auf die
RAF reagierten
• Vom RAF-Terror zu den An-
titerrorgesetzen - der Staat
im Dilemma
• Die Nacht von Mogadischu -
wie Geiseln die „Landshut“-
Entführung heute sehen. (bli)
Unnachgiebiger Kanzler:
Helmut Schmidt 1977
sen ist, ob Grundsätze und
Grundwerte zur Disposition
gestellt wurden.
Wir fragen Sie, liebe Lese-
rinnen und Leser, wie Sie heu-
te - 30 Jahre danach - die Ereig-
nisse des Jahres 1977 beurtei-
len.
• Schreiben Sie unter dem
Stichwort „Deutscher Herbst“
an die HNA-Politikredaktion,
Frankfurter Straße. 168,
34121 Kassel
• oder faxen Sie uns an
0561 203 2334
• oder mailen Sie an
[email protected]
D
er Deutsche Herbst des
Terrorjahres 1977 hat
die Öffentlichkeit be-
wegt wie kaum ein anderes Er-
eignis des deutschen Nach-
kriegsgeschichte: Entsetzen
über die kaltblütige Ermor-
dung Unschuldiger; Debatten
über die Frage, wie das Leben
Hanns-Martin Schleyers geret-
tet werden könnte; Freude
über die Befreiung der „Lands-
hut“-Geiseln; Trauer um
Hanns-Martin Schleyer; aber
auch Sorgen, ob der Rechts-
staat bei der Bekämpfung des
RAF-Terrorismus nicht auch
über das Ziel hinausgeschos-
Erinnern Sie sich?
Schreiben Sie uns!
H
anns Martin Schleyer -
der Mann mit dem
markanten Schmiss im
Gesicht war 1977 eine der
Symbolfiguren der deutschen
Wirtschaft - und damit das
ideale Opfer für die RAF. Seit
1963 im Vorstand von Daim-
ler-Benz, seit 1973 Präsident
der deutschen Arbeitgeber
(BDA), seit 1977 zusätzlich
Chef des Bundesverbandes der
Deutschen Industrie (BDI), zu-
dem als unbequemer Ver-
handler in Tarifrunden ge-
fürchtet - aus der Sicht der Ter-
roristen der skrupellose Kapi-
talist schlechthin.
Aber auch wegen seiner
Vergangenheit im Dritten
Reich - Schleyer, 1915 in Of-
fenburg geboren, war früh
Mitglied der SS, dann Nazi-Stu-
dentenführer und schließlich
an einflussreicher Stelle im
besetzten Prag tätig - war er
für viele eine Reizfigur.
1939 heiratete Hanns-Mar-
tin Schleyer Waltrude Kette-
rer. Aus ihrer Ehe gingen vier
Söhne hervor.
Nach seinem Tod gründe-
ten der BDA und der BDI die
Hanns-Martin-Schleyer-Stif-
tung, die junge Wissenschaft-
ler im Bereich der Rechts-,
Wirtschafts- und Kulturwis-
senschaften fördert. (dpa/bli)
Unbequem und umstritten
Hanns Martin Schleyer - Symbolfigur der deutschen Wirtschaft
Hanns Martin Schleyer - am 5. September 1977 in Köln entführt,
am 19. Oktober im Elsass ermordet aufgefunden. Foto: dpa
HI NTERGRUND
Die Toten von Köln
Im Kugelhagel der RAF-Terro-
risten starben die Personen-
schützer Reinhold Brändle
(41), Helmut Ulmer ( 24) und
Roland Pieler (20) sowie
Schleyers Chauffeur Heinz
Marcisz.
Am Kölner Tatort an der
Ecke Friedrich-Schmidt-Stra-
ße/Vincenz-Statz-Straße erin-
nern eine Stele und ein Kreuz
mit Fotos der Opfer an den
brutalen Mord vom 5. Sep-
tember 1977.
Regelmäßig finden dort
private oder offizielle Ge-
denkveranstaltungen der
Stadt statt.
Boss der Bosse, Repräsentant
des Kapitalismus schlechthin,
der die Welt in seinem Würge-
griff hält. Die Regierung ist in
dieser Weltsicht nur der Büt-
tel des Kapitals, lächerliche
Marionette an den Fäden der
Großindustrie. Und hatte
Kanzler Helmut Schmidt (SPD)
nicht schon der Freilassung
von Terroristen zugestimmt,
als die „Bewegung 2. Juni“
zweieinhalb Jahre zuvor den
Berliner CDU-Politiker Peter
Lorenz entführt hatte?
Aber gerade die Erfahrung
im Fall Lorenz ist es, die den
Bundeskanzler diesmal hart
bleiben lässt. Die damalige
Entscheidung hält Helmut
Schmidt für falsch, das Nach-
geben gegenüber der Gewalt
habe nur neue Gewalt nach
Stuttgart-Stammheim einsit-
zenden Andreas Baader und
Gudrun Ensslin.
Die Überlegung der RAF:
Mit einer so hochkarätigen
Geisel wie Hanns-Martin
Schleyer in den Händen muss
die Bundesregierung nachge-
ben. Schleyer ist für sie der
VON WOL F GANG BL I E F F E RT
M
ontag, 5. September
1977. Arbeitgeberprä-
sident Hanns Martin
Schleyer verlässt das Büro des
Arbeitgeberverbandes in Köln
und lässt sich von seinem
Chauffeur nachhause fahren.
Hinter seinem Wagen folgen
drei Personenschützer in ei-
nem zivilen Polizeifahrzeug.
Seit dem Mordanschlag auf
Generalbundesanwalt Siegri-
fried Buback im April gehört
Schleyer zu den gefährdetsten
Person der Bundesrepublik. Es
ist 17.25 Uhr, als Schleyers
Wagen von der Friedrich-
Schmidt-Straße in die Vin-
cenz-Statz-Straße abbiegt.
Urplötzlich stößt ein Auto
auf die Fahrbahn zurück.
Schleyers Fahrer muss scharf
bremsen, der zweite Wagen
kann nicht mehr stoppen und
fährt auf. Vier Personen, die
an der Ecke gewartet haben,
reißen ihre Sturmgewehre
vom Typ Heckler & Koch aus
einem blauen Kinderwagen
und eröffnen das Feuer, der
Chauffeur und die drei Polizis-
ten sterben im Kugelhagel.
Der Arbeitgeberpräsident
selbst bleibt unverletzt. Die
Männer zerren ihn aus dem
Dienstwagen und brausen in
einem VW-Bully davon. Hanns
Martin Schleyer ist in den
Händen der RAF, der terroris-
tischen Roten Armee Fraktion.
Mit dem Kölner Blutbad
startet die RAF ihre spektaku-
lärste Aktion zur Freipressung
ihrer führenden Mitglieder,
darunter die seit Jahren in
Es begann mit einem Massaker
Vor 30 Jahren entführten Terroristen den Industriellen Schleyer, um die Spitze der RAF freizupressen
sich gezogen. Im großen Kri-
senstab, dem die wichtigsten
Minister des Kabinetts und die
Spitzen der Sicherheitsbehör-
den ebenso angehören wie
Vertreter des Bundestages und
der Länder sowie der parla-
mentarischen Opposition,
wird eine gemeinsame Linie
mit drei Zielen formuliert:
• Es wird auf Zeit gespielt, da-
mit Schleyer lebend befreit
werden kann. Schmidt ver-
lässt sich auf den Optimismus
von Horst Herold, den Chef
des Bundeskriminalamtes,
dessen computergestütztes
Fahndungssystem nun an-
läuft.
• Die Geiselnehmer sollen ge-
fasst und vor Gericht gestellt
werden.
• Dabei darf die Handlungsfä-
higkeit des Staates und das
Vertrauen in ihn nicht gefähr-
det werden.
In der unausgesprochenen
Konsequenz bedeutet das: Die
RAF-Gefangenen werden nicht
freigelassen. In einem Inter-
view mit dem Dokumentarfil-
mer Heinrich Breloer („Todes-
spiel“) sagte Schmidt Jahre
später auf die Frage, ob damit
nicht von Anfang an das Leben
Schleyers zur Disposition ge-
stellt worden sei: „Der Aus-
druck zur Disposition - das
kann ich nicht akzeptieren.
Dass er gefährdet war, das war
uns allen klar.“ So beginnt ein
wochenlanges Tauziehen um
das Leben Schleyers.
• Nächste Folge: Mörder aus
der Mitte der Gesellschaft: die
Rote Armee Fraktion.
Tatort Köln: Ein Wagen der Terroristen (oben rechts) stieß plötzlich zurück auf die Vincenz-Statz-Straße. Hanns Martin Schleyers Chauf-
feur musste scharf bremsen, das Fahrzeug der Personenschützer fuhr auf. Die Terroristen eröffneten das Feuer. Foto: dpa
Samstag, 1. September 2007 Zeitgeschehen
SZ−ZG2
e-paper für: 6069489
Ferdinand Schmitt hätte
ein Held werden können.
So dicht wie der Polizist
aus Erftstadt-Liblar bei
Köln war im September
1977 niemand der Roten
Armee Fraktion (RAF) auf
den Fersen. „Hanns Mar-
tin Schleyer könnte noch
leben“, sagt der Polizeibe-
amte a.D. heute.
Rückblick: Im Groß-
raum Köln schwärmen
gleich nach der Entfüh-
rung hunderte Polizeibe-
amte aus, um Wohnun-
gen zu finden, die in das
Raster passen, das die
Computer von BKA-Präsi-
dent Horst Herold für die
RAF-Wohnungen ermit-
telt haben: anonym, in
unmittelbarer Nähe einer
Autobahn gelegen sowie
mit Tiefgarage und Lift
ausgestattet.
Das Haus „Zum Renn-
graben 8“ in Erftstadt-Lib-
lar mit 130 Wohnungen
passt in dieses Raster. Und
als Polizist Schmitt am 7.
September den Hausmeis-
ter nach Auffälligkeiten
bei Anmietungen in letz-
ter Zeit fragt, wird in
Apartment 104 tatsäch-
lich gerade Schleyer ge-
filmt. Er fleht, die Forde-
rungen der Terroristen zu
erfüllen.
Als Schmitt mit der
Hausverwaltung spricht,
riecht er Lunte: Die 800
Mark Kaution sind von ei-
ner Frau namens Annero-
se Lottmann-Bücklers mit
einem Bündel Geldschei-
nen bar bezahlt worden.
Und beim Einzug wurden
keine Möbel in die Woh-
nung getragen.
Annerose Lottmann-
Bücklers war in Wahrheit
die RAF-Terroristin Moni-
ka Helbing. Schmitt lässt
am Nachmittag ein Fern-
schreiben absetzen - doch
dann passiert das Un-
glaubliche: nichts. Ein
Kollege von der Dienst-
stelle Hürth sagt ihm spä-
ter: „Ferdi, der Hinweis ist
als nicht relevant einge-
stuft worden.“
Dabei hätte das Compu-
tersystem PIOS (Personen,
Institutionen, Objekte,
Sachen) schon bei einer
schnellen Überprüfung
des Namens Lottmann-
Bücklers, der auch auf
dem Klingelschild stand,
Alarm ausgelöst. Lott-
mann-Bücklers hatte bin-
nen kurzer Zeit viermal
den Personalausweis und
zweimal den Reisepass als
gestohlen gemeldet. Es
wurde vermutet, dass sie
die Pässe der RAF zur Ver-
fügung stellte und die Ter-
roristen ihre Identität für
Anmietungen benutzten.
Aber Schmitts Fern-
schreiben versandet ir-
gendwo auf dem Dienst-
weg zwischen Hürth und
Köln - die größte Fahn-
dungspanne der deut-
schen Polizei. (dpa)
Die
Panne
Serie: Der Deutsche Herbst (Teil 2)
1977 der RAF auf der Spur:
Ferdinand Schmitt, damals
Polizist. Fot: dpa.
Tod in Stammheim: Ulrike Meinhof (1934-1976). Foto: dpa
falsch, überhaupt mit diesen
Leuten zu reden. Und natür-
lich kann geschossen wer-
den.“
Meinhof hat den Weg in die
Illegalität gewählt, ist in den
folgenden Monaten an Bank-
überfällen und Bombenan-
schlägen beteiligt, bei denen
vier Menschen sterben. 1972
wird sie verhaftet, erhält we-
gen des Attentats auf das
Stammhaus des Axel Springer
Verlages in Hamburg acht Jah-
ren Freiheitsstrafe. Im Mai
1975 wird sie im Stammhei-
mer RAF-Prozess wegen Mor-
des angeklagt.
In den folgenden Monaten
verschlechtert sich das Ver-
hältnis zwischen ihr und den
anderen Angeklagten. Gudrun
Ensslin beschimpft sie in ei-
nem Kassiber als „zu
schwach“ für den revolutionä-
ren Kampf“. Am 8. Mai 1976
erhängt sich Ulrike Meinhof
mit Handtuchstreifen an ih-
rem Zellenfenster.
tät. Zum Prozess schreibt sie:
„Das progressive Moment ei-
ner Warenhausbrandstiftung
liegt nicht in der Vernichtung
von Waren, es liegt in der Kri-
minalität der Tat, im Gesetzes-
bruch.“
Und so ist Ulrike Meinhof
dabei, als der verurteilte Baa-
der am 14. Mai 1970 befreit
wird. Im Lesesaal des Deut-
schen Zentralinstituts für So-
ziale Fragen in Berlin wird da-
bei ein Angestellter ange-
schossen und schwer verletzt.
Die Befreiung kann als eine
Art Gründungsakt der RAF be-
zeichnet werden.
In einem Tonbandinterview
erklärt Meinhof einer franzö-
sischen Journalistin wenige
Tage später: „Wir sagen natür-
lich, die Bullen sind Schweine.
Wir sagen, der Typ in Uniform
ist ein Schwein, kein Mensch.
Und so haben wir uns mit ih-
nen auseinanderzusetzen. Das
heißt, wir haben nicht mit
ihm zu reden, und es ist
VON WOL F GANG BL I E F F E RT
U
lrike Marie Meinhof, ge-
boren 1934 Oldenburg,
war nicht nur Grün-
dungsmitglied der Roten Ar-
mee Fraktion (RAF), sondern
auch lange Zeit deren intellek-
tueller Kopf.
Von 1959 bis 1969 arbeitet
sie für die linke Zeitschrift
konkret, mit deren Herausge-
ber Klaus Rainer Röhl sie ver-
heiratet ist und zwei Kinder -
die Zwillinge Regine und Betti-
na - hat. In dieser Zeit lernt sie
das Leben der Hamburger
Schickeria kennen, dennoch
wird sie durch ihre Kommen-
tare in konkret zu einer bun-
desweit bekannten Symbolfi-
gur der außerparlamentari-
schen Linken.
Bei der Berichterstattung
über den Frankfurter Kauf-
haus-Brandstifterprozess lernt
sie die Angeklagten kennen.
Sie ist vor allem beeindruckt
von Andreas Baaders Radikali-
„Und natürlich kann
geschossen werden“
Zur Person: Ulrike Meinhof, Gründungsmitglied der RAF
LESER
Schreiben Sie uns
Wir fragen Sie, liebe Lese-
rinnen und Leser, wie Sie
heute - 30 Jahre danach -
die Ereignisse des Jahres
1977 beurteilen. Schrei-
ben Sie uns unter dem
Stichwort „Deutscher
Herbst“
• an die HNA-Politikredak-
tion, Frankfurter Stra-
ße 168, 34 121 Kassel
• oder faxen Sie an
0561 203 2334
• oder mailen Sie an
[email protected]
tagelange Unruhen in vielen
westdeutschen Städten aus. Es
gibt zwei Tote.
In Teilen der Protestbewe-
gung setzt nun eine schnelle
Radikalisierung ein. Disku-
tiert wird nicht mehr nur über
Gewalt gegen Sachen. Mit der
Befreiung des Kaufhausbrand-
stifters Andreas Baader am
14. Mai 1970 beginnt sich die
Rote Armee Fraktion zu for-
noch nie gekannter Weise he-
raus. Zu den Toten gehören
am Ende auch Ensslin und An-
dreas Baader.
Rückblick in die 60er-Jahre:
Die Jugend, vor allem die stu-
dentische, begehrt auf, nicht
nur in Deutschland. Demons-
trationen, Go-ins und Sit-ins
sind an der Tagesordnung,
protestiert wird gegen den Vi-
etnamkrieg und die Not-
standsgesetze, demonstriert
wird für Studienreformen und
mehr Demokratie. In Wohn-
kommunen werden neue Le-
bens- und Liebesformen aus-
probiert, in den Familien wird
die Elterngeneration nach der
Nazi-Vergangenheit gefragt.
West-Berlin ist ein Zentrum
des Protests. Bei einer De-
monstration gegen den Schah
von Persien wird am 2. Juni
1967 der Student Benno Ohne-
sorg von einem Polizisten er-
schossen - es ist ein Schuss in
viele Köpfe. Und als am Grün-
donnerstag 1968 der Studen-
tenführer Rudi Dutschke von
einem rechtsradikalen Ar-
beitslosen angeschossen und
schwer verletzt wird, brechen
VON WOL F GANG BL I E F F E RT
D
er Gerichtssaal als Ko-
mödienstadl, die Ange-
klagten als Politclowns
– so inszenieren sich die vier
jungen Leute, denen im Okto-
ber 1968 in Frankfurt der Pro-
zess gemacht wird. Die Ankla-
ge lautet auf Brandstiftung,
hatten die vier doch dafür ge-
sorgt, dass in zwei Warenhäu-
sern Feuer ausbrach und Sach-
schaden entstand. Die Ange-
klagte Gudrun Ensslin, Pfar-
rerstochter aus Tuttlingen,
spricht von einer Protestakti-
on: „Ich interessiere mich
nicht für ein paar verbrannte
Schaumstoffmatratzen, ich
rede von verbrannten Kindern
in Vietnam.“
Was als moralische Empö-
rung über den Krieg der Ame-
rikaner in Südostasien be-
gann, eskaliert in den folgen-
den Monaten und Jahren. Aus
Brandstiftern werden Terroris-
ten, aus der Spaßguerilla die
Stadtguerilla. Nicht einmal
zehn Jahre später - im Herbst
1977 - fordert die Rote Armee
Fraktion (RAF) den Staat in
Von der Spaß- zur Stadtguerilla
Was als moralischer Protest begann, endete in mörderischem Terror - die RAF und ihre Vorgeschichte
mieren. Sie sieht sich als Teil
einer weltweiten Befreiungs-
armee gegen US-Imperialis-
mus und Kapitalismus. Die
RAF begeht Banküberfälle, un-
ter anderem in Kassel und Ber-
lin, und verübt Bombenan-
schläge, etwa auf Einrichtun-
gen der US-Truppen und das
Springer-Hochhaus in Ham-
burg.
Zu Tode gehungert
Aber schon zwei Jahre spä-
ter gehen Baader, Ensslin und
Meinhof den Sicherheitsbe-
hörden ins Netz. Die Haftbe-
dingungen sind umstritten,
die RAF spricht von Isolations-
folter und organisiert Hunger-
streiks, der Terrorist Holger
Meins kommt dabei ums Le-
ben. Es gelingt der RAF, eine
Sympathisantenszene zu mo-
bilisieren, die weit ins bürger-
liche Lager reicht. Hilflos ver-
weist der Staat auf Fernseher,
Radios, Zeitschriften und an-
dere Sondervergünstigungen
in den Zellen.
Vom Anspruch des antiim-
perialistischen Kampfes ist bei
der so genannten zweiten Ge-
neration der RAF nicht mehr
viel zu spüren. Die Befreiung
der Genossen in deutschen
Haftanstalten ist zum Haupt-
ziel geworden. Im April 1975
überfällt ein RAF-Kommando
die deutschen Botschaft in
Stockholm, um deren Freilas-
sung zu erpressen, zwei deut-
sche Diplomaten sterben.
Doch die Regierung von Bun-
deskanzler Helmut Schmidt
(SPD) bleibt hart.
Aus ihren Zellen heraus
drängt die RAF-Spitze nun im-
mer entschiedener auf den
großen Befreiungsschlag, auf
„big raushole“. Generalbun-
desanwalt Siegfried Buback
und Dresdner-Bank-Chef Jür-
gen Ponto werden ermordet.
Und am 5. September 1977
wird Arbeitgeberpräsident
Hanns-Martin Schleyer ent-
führt, seine vier Begleiter wer-
den erschossen.
• Dritte Folge: Der Kampf der
Frontsoldaten - Kanzler
Schmidt und der Krisenstab.
• Die einzelnen Teile der Serie
„Der Deutsche Herbst“ kön-
nen Sie online nachlesen un-
ter www.hna.de/politik
Frankfurter Kaufhausbrandstifter-Prozess 1968: Die Angeklagten (von links) Thorwald Proll, Horst Söhnlein, Andreas Baader und Gudrun Ensslin rauchen vor der Urteils-
verkündung demonstrativ im Gerichtssaal. Sie erhielten jeweils drei Jahre Haft. Baader und Ensslin gehörten später zu den Gründern der Roten Armee Fraktion und nah-
men sich 1977 in der Haft das Leben. Söhnlein saß seine Strafe ab, ebenso der aus Kassel stammende Proll, der seit 1978 als Buchhändler in Hamburg lebt. Foto: dpa
Samstag, 8. September 2007 Zeitgeschehen
SZ−ZG2
e-paper für: 6069489
A
ls Präsident des
Bundeskriminal-
amtes (BKA) ist
Horst Herold in den 70er-
Jahren Deutschlands er-
folgreichster Terroristen-
jäger. Seit 1. September
1971 im Wiesbadener
Amt wird unter seiner
Ägide massiv aufgerüstet -
personell und technisch.
„Mister Computer“ er-
kennt die neuen techni-
schen Möglichkeiten,
baut die zentrale Daten-
bank INPOL auf. Die elek-
tronische Aufbereitung
macht eine bis dahin un-
bekannte Rasterfahndung
möglich, bei der große
Datenbestände nach be-
stimmten Merkmalen
durchkämmt werden.
Allerdings machen sei-
ne Methoden den frühe-
ren Richter und Staatsan-
walt für viele zur Verkör-
perung des Überwa-
chungsstaats. Als der
Deutsche Herbst vorüber
ist, werden seine Daten-
banken mehr und mehr
als Bedrohung bürgerli-
cher Freiheiten angese-
hen. Nach Meinungsver-
schiedenheiten mit FDP-
Innenminister Gerhart
Baum wird Herold 1981 in
den Ruhestand geschickt.
Zum Schutz vor Anschlä-
gen lebt der 83-Jährige
heute noch auf einem Mi-
litärgelände.
D
ie frühere Philoso-
phiestudentin Bri-
gitte Mohnhaupt
gehört schon Anfang der
70er-Jahre zum Kreis der
RAF. Wegen Mitglied-
schaft in einer kriminel-
len Vereinigung wird die
Tochter eines Verlags-
kaufmanns zu vierein-
halb Jahren Haft verur-
teilt. Im Februar 1977
kommt sie frei - und über-
nimmt sogleich eine füh-
rende Rolle bei Planung
und Ausführung der RAF-
Morde in diesem Jahr.
Im Mai 1978 wird
Mohnhaupt in Jugosla-
wien verhaftet, ent-
kommt aber einer Auslie-
ferung. Im November
1982 geht sie der Polizei
in Hessen dann doch ins
Netz, als sie im Wald ein
Depot ausheben will. Erst
im März 2007 kam Mohn-
haupt frei. Heute ist sie 58
Jahre alt - 26 davon ver-
brachte sie in der Haft.
Der Fahnder
und die
RAF-Chefin
Serie: Der Deutsche Herbst (Teil 3)
Mister Computer: Horst
Herold, Präsident des Bun-
deskriminalamtes. Foto: dpa
Kopf der zweiten RAF-Ge-
neration: Brigitte Mohn-
haupt. Foto: dpa
STI CHWORT
Deutscher Herbst
Der Begriff „Deutscher
Herbst“ für die Ereignisse
im Jahr 1977 entstand erst
später: Im Frühjahr 1978
kam der Film „Deutsch-
land im Herbst“ in die Ki-
nos, eine Gemeinschafts-
aktion von elf Regisseuren
des so genannten Neuen
deutschen Films, unter ih-
nen Rainer Werner Fass-
binder (gestorben 1982),
Alexander Kluge und Vol-
ker Schlöndorff („Die
Blechtrommel“).
Sie befassten sich in ih-
ren Beiträgen vor allem
mit dem innenpolitischen
Klima jener Monate, dem
pauschalen Verdacht ge-
gen angebliche und tat-
sächliche Sympathisanten
der Rote Armee Fraktion
(RAF), sowie Reaktionen
des Staates auf den Terro-
rismus. (bli) Das Regierungsviertel im Ausnahmezustand: Ein großes Polizei- und Bundesgrenzschutzaufgebot si-
chert im Herbst 1977 die Sitzungen des Krisenstabes im Kanzleramt. Foto: dpa
In einem Interview der „Zeit“
antwortet Helmut Schmidt
jetzt auf die Frage, ob der
Rechtsstaat 1977 gesiegt habe:
„Der Rechtsstaat hat nicht
zu siegen, er hat auch nicht zu
verlieren, sondern er hat zu
existieren.“
Und auf die Frage, was bei
ihm selbst von 1977 übrig ge-
blieben sei:
„Ich würde das wiederho-
len, was ich in der von Ihnen
zitierten Rede im Bundestag
gesagt habe: Ich bin verstrickt
in Schuld - Schuld gegenüber
Schleyer und gegenüber Frau
Schleyer und gegenüber den
beiden Beamten in Stockholm
- dem Militärattaché Andreas
Baron von Mirbach und dem
Wirtschaftsattaché Heinz Hil-
legaart, die umgebracht wur-
den.“
Schmidt: Ich
bin verstrickt
in Schuld
in Gefahr. Zu seiner Sicherung
waren sie bereit, hart zu blei-
ben und zu kämpfen.
Schmidt, der bis heute ein
Verehrer des Soziologen Max
Weber (1864–1920) ist, mag in
jenen Tagen in dessen Aufsatz
„Der Beruf zur Politik“ nach-
gelesen haben. Das politische
Tun, heißt es da, sei in Tragik
verflochten. Und den Staats-
mann zeichne „die geschulte
Rücksichtslosigkeit des Bli-
ckes in die Realitäten des Le-
bens und die Fähigkeiten, sie
zu ertragen und ihnen inner-
lich gewachsen zu sein“, aus.
• Nächste Folge: Der Staat rea-
giert: Auf den RAF-Terror folg-
te das erste Anti-Terrorgesetz.
• Die bislang erschienenen
Teile der Serie „Der Deutsche
Herbst“ können Sie online
nachlesen unter
www.hna.de/politik
spiel“ das Drama des Deut-
schen Herbstes sehr exakt
nachgezeichnet hat, machte
unter vielen der damals han-
delnden Politiker ehemalige
Soldaten des Zweiten Welt-
krieges aus: Schmidt, Strauß,
Herold, Innenminister Wer-
ner Maihofer (FDP), Kanzler-
amtsminister Hans-Jürgen Wi-
schnewski (SPD) - sie alle hatte
das Kriegserlebnis geprägt,
und sie sahen sich jetzt wieder
an einer Front stehen, heraus-
gefordert durch die Rote Ar-
mee Fraktion. „Kriegserklä-
rung annehmen oder Kapitu-
lation verkünden, war das die
Alternative“, fragte Heinrich
Breloer Friedrich Zimmer-
mann (CSU). Und der spätere
Innenminister sagte: „Wir ha-
ben den Krieg angenommen.“
Die ehemaligen Frontsolda-
ten sahen zudem den Staat,
den sie mit aufgebaut hatten,
sönlichen Betroffenheit – Hel-
mut Kohl etwa ist ein Freund
des entführten Schleyer – sehr
sachlich. Das haben alle Betei-
ligten später ausdrücklich be-
tont. Nur über die Antworten
auf Schmidts einmal geäußer-
te Bitte, doch auch exotische
Lösungsmöglichkeiten anzu-
denken, gehen die Darstellun-
gen auseinander. Hat Strauß,
der 1988 gestorben ist, tat-
sächlich gesagt, der Staat solle
RAF-Gefangene foltern oder
gar töten? Oder sagte er nur si-
byllinisch „Wir haben doch
auch Geiseln“?
Vom Krieg geprägt
Einigkeit bestand unter den
Teilnehmern des Krisenstabes
jedenfalls, dass die Gefange-
nen nicht frei gelassen wer-
den dürften. Der Dokumentar-
filmer Heinrich Breloer, des-
sen ARD-Zweiteiler „Todes-
Wie im Fall Stockholm ist
der Kanzler auch diesmal
nicht gewillt nachzugeben.
Um den Terroristen zu de-
monstrieren, dass die Regie-
rung getragen wird von einem
breiten Konsens, beruft
Schmidt einen großen Krisen-
stab ein, in dem auch Vertre-
ter der Opposition wie CDU-
Chef Helmut Kohl und Vertre-
ter der Länder wie Bayerns Mi-
nisterpräsident Franz Josef
Strauß (CSU) sitzen. Sie alle
sollen über die Botschaften
der Entführer ebenso infor-
miert werden wie über die
wichtigsten Schritte der Regie-
rung. Damit bindet der Kanz-
ler sie zudem in die Verant-
wortung ein, damit im Fall des
Todes Schleyers niemand da-
raus parteipolitischen Profit
schlagen kann.
Die Diskussionen im Krisen-
stab verlaufen bei aller per-
VON WOL F GANG BL I E F F E RT
D
eutschland im Herbst
1977 – das bedeutet
auch Ausnahmezu-
stand für Bonn. Panzerwagen
vor dem Kanzleramt, Hub-
schrauber über dem Regie-
rungsviertel, endloses Warten
für hunderte Journalisten aus
aller Welt, ergebnislose Sit-
zungen des großen Krisensta-
bes. Die Entführung von Ar-
beitgeberpräsident Hanns
Martin Schleyer, die Ermor-
dung seiner vier Begleiter und
die Forderung nach Freilas-
sung von 20 RAF-Häftlingen,
zerren an den Nerven aller Be-
teiligten. Geschockt von den
dramatischen Ereignissen
sucht die Nation den Alltag zu
bewältigen.
Während Schleyer von den
Fahndern immer noch im
Großraum Köln vermutet
wird, ist er tatsächlich inzwi-
schen in die Niederlande ge-
bracht worden. Horst Herold,
Präsident des Bundeskriminal-
amtes, hat Kanzler Helmut
Schmidt (SPD) versichert, es
bestehe ein gute Chance,
Schleyer mittels seiner com-
putergestützten Fahndung
finden und befreien zu kön-
nen.
Die Bundesregierung spielt
deshalb auf Zeit, versucht, die
Entführer mit immer neuen
Botschaften hinzuhalten. Mal
wird ein Lebenszeichen
Schleyers verlangt, mal sollen
die inhaftierten RAF-Mitglie-
der Länder benennen, in die
sie ausgeflogen werden möch-
ten. Doch intern ist die Linie
des Kanzlers klar: Die Gefan-
genen sollen nicht frei gelas-
sen werden.
Peter Lorenz entführt
Schmidt zieht damit die
Konsequenzen aus dem, wie
er es später nennt, schwersten
Fehler seiner Amtszeit. An-
fang 1975 hatte er der Bewe-
gung 2. Juni nachgegeben, die
den Berliner CDU-Politiker Pe-
ter Lorenz entführt und eben-
falls die Freilassung von Ge-
fangenen gefordert hatte. Das
Nachgeben ermunterte die
Terroristen: Nur wenige Wo-
chen später versuchte ein RAF-
Kommando mit dem Sturm
auf die deutsche Botschaft in
Stockholm, die RAF-Spitze um
Andreas Baader und Gudrun
Ensslin freizupressen. Zwei Di-
plomaten und zwei Terroris-
ten starben.
Der Krieg der Frontsoldaten
Helmut Schmidt und der Krisenstab waren sich einig: Die RAF-Gefangenen werden nicht frei gelassen
Der Kanzler und die Geisel: Helmut Schmidt während einer Fernsehansprache zur Entführung von Hanns Martin Schleyer. Das kleine
Bild zeigt den Arbeitgeberpräsidenten auf einem Foto, das die RAF der Bundesregierung zuschickte. Fotos: dpa
Samstag, 15. September 2007 Zeitgeschehen
SZ−ZG2
e-paper für: 6069489
Die Mitglieder der Roten
Armee Fraktion (RAF)
werden für den Tod von
34 Menschen verantwort-
lich gemacht. An viele Op-
fer erinnern an der Stelle
ihrer Ermordung Tafeln,
Mahnmale oder Gedenk-
steine.
Zu den bekanntesten
Opfern gehört General-
bundesanwalt Siegfried
Buback, der 1977 zusam-
men mit zwei Begleitern
in Karlsruhe erschossen
wurde. Die Stadt stellte
zum Gedenken einen
dreieckigen Granitstein
auf einen Rasen. Er soll
die Ermordeten, den
Rechtsstaat und die Ge-
meinschaft symbolisie-
ren. An dem Mahnmal,
das der Dominikanerpa-
ter Donatus Leicher ge-
formt hat, legt die Stadt
jedes Jahr zu Bubacks To-
destag am 7. April einen
Kranz nieder.
An den drei Monate
später in seinem Haus im
hessischen Oberursel er-
schossenen Bankier Jür-
gen Ponto erinnert ein
Brunnen. Der von Pontos
Arbeitgeber, der Dresdner
Bank, gestiftete Brunnen
steht vor dem Rathaus des
Ortes. Eine Tafel erinnert
an die Ermordung des Ma-
nagers.
Nach dem im Septem-
ber 1977 in Köln entführ-
ten und später in Frank-
reich erschossenen Ar-
beitgeberpräsidenten
Hanns Martin Schleyer ist
in seinem Geburtsort Of-
fenburg eine Straße be-
nannt. Dem 1986 in Straß-
lach (Bayern) ermordeten
Siemens-Vorstand Karl
Heinz Beckurts wurde ein
Denkmal in Form eines
großen Steines gesetzt.
Seine Familie schmückt
den Stein mit der Gravur
„Den Opfern des Terrors“
regelmäßig mit Blumen.
An der Stelle, an der Al-
fred Herrhausen bei ei-
nem Bombenattentat in
Bad Homburg 1989 ums
Leben kam, steht ein
Mahnmal aus drei Basalt-
stelen. Auf diesen sind
Worte der Lyrikerin Inge-
borg Bachmann und des
Philosophen Karl Popper
eingraviert, die Herrhau-
sen sehr schätzte. Die
dritte Stele ist gebrochen
und trägt Uhrzeit und Da-
tum von Herrhausens
Tod. (bli)
Gedenken
an die Opfer
der RAF
Serie: Der Deutsche Herbst (Teil 4)
Gedenkstein für Siegfried
Buback und seine Begleiter
in Karlsruhe. Fotos: dpa
Das letzte Opfer: Gedenk-
tafel für den 1993 in Bad
Kleinen getöteten BGS-Be-
amten Michael Newrzella.
der am 1. September 1971
Chef der Wiesbadener Bundes-
behörde wird. „Mister Compu-
ter“ erkennt die neuen techni-
schen Möglichkeiten, baut die
zentrale Datenbank INPOL
auf.
Im September 1972 wird
auf Anordnung des damaligen
Bundesinnenministers Hans-
Dietrich Genscher (FDP) die
Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9)
geschaffen, eine Spezialein-
heit des Bundesgrenzschutzes.
Der Verfassungsschutz erhält
neue Befugnisse. Er darf auch
politisch motivierte Bestre-
bungen beobachten.
Noch bevor der RAF-Terror
eskaliert, setzten SPD und FDP
im Juni 1976 das Anti-Terror-
Gesetz durch. Ins Strafgesetz-
buch wird der Paragraf 129a
eingefügt. Fortan ist die „Bil-
dung einer terroristischen
Vereinigung“ eine Straftat.
VON NORBE RT KL AS CHKA
BERLIN. Die Staatsgewalt
schlug zurück. Mit Härte be-
gegnete sie der terroristischen
Bedrohung, baute den Polizei-
apparat aus, schärfte ihr juris-
tisches Instrumentarium. Ob-
wohl die RAF schon lange ihre
Auflösung erklärt hat, sind die
meisten Anti-Terror-Gesetze
noch in Kraft.
Zwei Brandanschläge auf
Frankfurter Kaufhäuser im
April 1968 stehen am Anfang
der RAF-Geschichte. Im No-
vember 1970 reagiert die Poli-
tik. Der Bundestag verabschie-
det ein Sofortprogramm, ver-
stärkt das Bundeskriminalamt
(BKA), erweitert dessen Kom-
petenzen. In den folgenden
Jahren wird das BKA massiv
aufgerüstet - personell und
technisch. Dafür steht vor al-
lem ein Name: Horst Herold,
Mit GSG 9 und zahlreichen Gesetzen
Der Staat wappnete sich - Viele Bestimmungen sind noch in Kraft, obwohl die RAF nicht mehr existiert
Bislang gab es nur eine Hand-
habe gegen kriminelle Verei-
nigungen (§ 129). Wie oft der
neue Paragraf angewandt wur-
de, kann keiner sagen, nicht
das Bundesjustizministerium
und auch die Bundesanwalt-
schaft nicht.
Schon Ende 1974 war der
Bundestag tätig geworden, als
Baader-Meinhof-Verteidiger
der Zusammenarbeit mit Ter-
roristen verdächtigt werden.
Verteidiger können vom Ver-
fahren ausgeschlossen wer-
den, wenn sie „dringend oder
hinreichend“ verdächtig sind,
an den Straftaten ihrer Man-
danten beteiligt zu sein. Im
folgenden RAF-Prozess in
Stuttgart-Stammheim, dem zu
einem Hochsicherheitstrakt
ausgebauten Gericht, trifft die
Vorschrift die Anwälte Klaus
Croissant, Kurt Groenewold
und Hans-Christian Ströbele.
In einem Eilverfahren be-
schließt der Bundestag im
September 1977, während Ar-
beitgeberpräsident Hanns
Martin Schleyer Geisel der
RAF ist, eine weitere Verschär-
fung. Gegen Häftlinge, die im
Zusammenhang mit einem
Verfahren gegen terroristi-
sche Vereinigungen einsitzen,
kann eine „Kontaktsperre“
verhängt werden. 30 Tage lang
dürfen sie weder miteinander
noch mit ihren Anwälten in
Kontakt treten. Wie oft eine
Kontaktsperre verhängt wur-
de, kann auch keiner sagen.
Jahre nach dem „Deutschen
Herbst“ beschließt der Bun-
destag, dass Hungerstreiken-
de, die noch bei Bewusstsein
sind, nicht mehr zwangser-
nährt werden müssen. Ende
1986 folgt ein neues Gesetz
zur Bekämpfung des Terroris-
mus. Er verschärft die Strafen
für Gründer, Mitglieder, Rä-
delsführer und Hintermänner
terroristischer Vereinigungen.
Die von der Union gewollte,
aber vom Regierungspartner
FDP zunächst blockierte Kron-
zeugenregelung folgt schließ-
lich im April 1989.
Unter Rot-Grün läuft sie
aus. Die große Koalition führt
sie jetzt modifiziert wieder
ein. (dpa)
Antwort auf das Olympia-At-
tentat: Die GSG 9. Foto: dpa
hen der Union bei Debatten
im Bundestag.
Auch der CDU-Oberbürger-
meister von Stuttgart, Man-
fred Rommel, wurde als Sym-
pathisant angefeindet, weil er
erlaubte, dass Andreas Baader,
Gudrun Ensslin und Jan-Carl
Raspe nach ihrem Selbstmord
auf einem Friedhof der Stadt
beigesetzt wurden.
Durchaus Verständnis
Es gab eine enge Unterstüt-
zerszene der Terroristen, die
diesen ihre blutigen Taten er-
möglichte. Die untergetauch-
ten Terroristen benötigten le-
gales Geld, legale Wohnun-
gen, Dokumente, Fahrkarten.
Wer sich von diesem Umfeld
nicht entschieden genug dis-
Empörung löste die Aktion
des Theatermachers Claus
Peymann aus, der Spenden für
eine Zahnbehandlung Gudrun
Ensslins sammeln ließ. Sogar
die Motive von Pfarrer Hein-
rich Albertz wurden ange-
zweifelt, der sich 1975 als Aus-
tauschgeisel für den entführ-
ten Berliner Politiker Peter Lo-
renz angeboten hatte. Selbst
Willy Brandt und Gustav Hei-
nemann wurden der heimli-
chen Unterstützung der RAF
bezichtigt. Es genügte in die-
ser Zeit der Hysterie, nach-
denkliche Fragen zu stellen
und statt „Baader-Meinhof-
Bande“ das neutralere Wort
„Gruppe“ zu benutzen. „Ban-
de, Bande“ kamen die empör-
ten Zwischenrufe aus den Rei-
VON SYL VI A GRI F F I N
D
ie Täter kamen aus der
Mitte der Gesellschaft.
Bürgerliche Elternhäu-
ser, hoher Bildungsstand - es
rief zunächst ungläubiges
Staunen und dann großes Er-
schrecken hervor, dass sich
hier junge Leute inmitten ei-
nes Reformklimas in der Ge-
sellschaft für den Terrorismus
der Roten Armee Fraktion ent-
schieden hatten.
Weil es sozusagen die Kin-
der von nebenan waren, die
sich da auf einen mörderi-
schen Weg gemacht hatten,
gab es vor allem unter Intel-
lektuellen das Bestreben, nach
den Ursachen des Terrors zu
fragen. Aber der Versuch, die
Vorgänge zu verstehen, wurde
in der öffentlichen Erregung
über die Taten der RAF sehr
schnell zum Verdacht der Bil-
ligung. „Sympathisant“ wurde
zum Schimpfwort; das Klima
der Verdächtigung war allge-
mein.
Auf der Liste derer, die sich
öffentlicher Schmähung und
heimlicher Überwachung aus-
gesetzt sahen, stand Heinrich
Böll, der auf der Suche nach ei-
nem Ende der Gewaltspirale
über „freies Geleit für Ulrike
Meinhof“ nachdachte. Der
Psychologieprofessor Peter
Brückner aus Hannover, der
die Studentenbewegung wohl-
wollend begleitet hatte und
mit dem Sozialistischen Deut-
schen Studentenbund redete,
wurde mehrfach vom Dienst
suspendiert. Sämtliche Diszip-
linar- und Strafmaßnahmen
gegen ihn wurden Anfang der
Achtzigerjahre eingestellt,
aber sein Ansehen war rui-
niert.
„Stilles Reserveheer“
Es sprach gegen ihn, dass er
einen Nachruf eines anony-
men Schreibers unter dem
Pseudonym „Mescalero“ in
Göttingen unterzeichnet hat-
te. Darin wurde der „klamm-
heimlichen Freude“ über den
Tod von Generalbundesan-
walt Siegfried Buback Aus-
druck verliehen. Doch auch
der Grafiker Klaus Staeck,
Günter Grass und Martin Wal-
ser, der Soziologe Oskar Negt,
der Verleger Klaus Wagen-
bach und der französische Phi-
losoph Jean-Paul Sartre wur-
den in der Springer-Presse als
das „stille Reserveheer des
Terrorismus“ bezeichnet.
Ein Klima der Verdächtigung
Als Sympathisant zum Schimpfwort wurde: Das gesellschaftliche Umfeld der RAF-Jahre
tanzierte, wurde leicht zu den
Sympathisanten gerechnet.
Die Distanzierung fiel man-
chen schwer. Nicht weil sie
Banküberfälle und Mordtaten
gebilligt hätten. Aber die Ur-
sprünge der RAF aus der Stu-
dentenbewegung und der Wi-
derstand gegen den Vietnam-
krieg hatten zunächst in ei-
nem großen Teil der Bevölke-
rung durchaus Verständnis ge-
funden.
Die RAF wurde, ehe ihre
verbrecherische Dimension
offenbar war, zunächst als
Ventil des Protests dagegen ge-
sehen, dass der Staat und die
Parteien voller Gleichgültig-
keit auf den Vietnamkrieg mit
seinen ständigen Eskalationen
reagierten. Von dieser politi-
schen Haltung wollten viele
nicht abrücken, weil sie sie
trotz der Entfesselung des Ter-
rors weiterhin als richtig emp-
fanden. Die Sympathisanten-
hetze der Boulevardpresse,
das Klima des Misstrauens der
staatlichen Organe und die
entfesselte Wut des Bürger-
tums auf die eigenen Ab-
kömmlinge ließen sie mit ei-
ner Verurteilung zögern.
• Nächste Folge unserer Serie:
Bilder als Waffe - eine Göttin-
ger Historikerin untersucht
die Medienpolitik der RAF.
• Die bislang erschienenen
Teile der Serie „Der Deutsche
Herbst“ können Sie online
nachlesen unter
www.hna.de/politik
Theatermacher Claus Pey-
mann (links unten) geriet in
die Kritik, weil er Geld für eine
Zahnbehandlung Gudrun Enss-
lins sammelte. Fotos: dpa
Margarethe von Trotta) ver-
filmt wurde. Unser großes Bild
zeigt den Grafiker Klaus Staeck
mit einem Poster, das sich auf
den Böll-Roman bezieht. Der
(oben links), dessen Roman
„Die verlorene Ehre der Katha-
rina Blum“ von Regisseur Vol-
ker Schlöndorff (im Bild Mitte
mit seiner damaligen Ehefrau
Zahlreiche Intellektuelle wur-
den in den Jahren des RAF-Ter-
rors des Sympathisantentums
bezichtigt. Zu ihnen gehörten
der Schriftsteller Heinrich Böll
Im Visier der Sympathisantenjäger
Samstag, 22. September 2007 Zeitgeschehen
SZ−ZG1
e-paper für: 6069489
Im Jahr 1977 startete die
Rote Armee Fraktion
(RAF) den groß angeleg-
ten Versuch, ihre im Ge-
fängnis Stuttgart-Stamm-
heim einsitzende Füh-
rungsspitze um Andreas
Baader, Gudrun Ensslin
und Jan-Carl Raspe freizu-
pressen. Rückblick:
• Gründonnerstag 1977.
Von einem Motorrad aus
erschießt ein RAF-Kom-
mando Generalbundesan-
walt Buback und zwei Be-
gleiter.
• 30. Juli: Jürgen Ponto,
Vorstandsvorsitzender
der Dresdner Bank, wird
in seinem Haus in Oberur-
sel erschossen, offenbar
weil er sich seiner Entfüh-
rung widersetzt.
• 25. August: Die RAF ver-
sucht, mit einem Rake-
tenwerfer das Gebäude
der Bundesanwaltschaft
in Karlsruhe zu attackie-
ren. RAF-Terrorist Peter
Jürgen Boock behauptet
später, er habe für eine
Fehlfunktion des Rake-
tenwerfers gesorgt.
• 5. September: Arbeitge-
berpräsident Hanns Mar-
tin Schleyer wird in Köln
entführt, seine vier Be-
gleiter sterben im Kugel-
hagel.
• 6. September: In einem
ersten von mehreren Ulti-
maten an die Bundesre-
gierung drohen die Ent-
führer mit der Ermor-
dung Schleyers, falls
nicht elf RAF-Häftlinge
frei gelassen und an einen
Ort ihrer Wahl ausgeflo-
gen würden.
• 7. September: Die Regie-
rung verordnet eine „Kon-
taktsperre“ für inhaftier-
te RAF-Mitglieder, die
Ende des Monats in einem
Eilverfahren auch gesetz-
lich beschlossen wird.
• Ende September/Anfang
Oktober: Schleyer ist in-
zwischen von Köln nach
den Haag und dann nach
Brüssel verschleppt wor-
den. Das Bundeskriminal-
amt hat keine heiße Spur
von den Entführern auf-
nehmen können, die Bun-
desregierung spielt weiter
auf Zeit. Vor diesem Hin-
tergrund muss die RAF
den Druck auf Bonn erhö-
hen. Mit palästinensi-
schen Partnern von der
PFLP werden in Bagdad
verschiedene Möglichkei-
ten erörtert. Ein Terror-
kommando macht sich
auf den Weg nach Palma
de Mallorca. Ihr Ziel: die
Lufthansa-Maschine
„Landshut“ zu entführen.
• Nächste Folge: Das Dra-
ma von Mogadischu und
die Nacht von Stamm-
heim
• Die bislang erschiene-
nen Teile der Serie „Der
Deutsche Herbst“ können
Sie online nachlesen un-
ter www.hna.de/politik
Fall Schleyer:
RAF erhöht
den Druck
Serie: Der Deutsche Herbst (Teil 5)
Ergebnislos: Großfahn-
dung nach den Schleyer-
Entführern. Foto: dpa
Die RAF-Mit-
glieder waren
nicht die Ersten,
die versuchten,
die Macht der Bil-
der für ihre Zwe-
cke zu nutzen.
Bereits 1975 hat-
ten Mitglieder
der „Bewegung 2.
Juni“ mit der Ent-
führung des Berli-
ner CDU-Politi-
kers Peter Lorenz
die Vorlage gelie-
fert. Die Entfüh-
rer verbreiteten
ein Foto, das die
Selbstdarstellung
des Bürgermeis-
ter-Kandidaten
im Wahlkampf
konterkarierte:
Aus dem selbstbe-
wussten Politi-
ker, der sich auf
den Plakaten als
tatkräftiger Ma-
cher und Garant
der inneren Si-
cherheit darge-
stellt hatte, war
ein seiner Frei-
heit und Würde
beraubter Gefan-
gener geworden, der im Unter-
hemd sitzend verstört in die
Kamera blickte. In diesem Fall
ging das Kalkül der Entführer
auf: Sie erreichten die Freilas-
sung von fünf inhaftierten
Terroristen und ließen dafür
Lorenz frei.
Auch die Schleyer-Entfüh-
rer spekulierten darauf, die
Freilassung der inhaftierten
RAF-Mitglieder erzwingen zu
können. Doch die von ihnen
verbreiteten Bilder erzeugten
einen gegenteiligen Effekt.
Terhoeven: „Bei den Verant-
wortlichen in Bonn überwo-
gen Erbitterung und Empö-
rung über die als Skandal
empfundenen Bilder das Mit-
leid mit dem Opfer, was die
Chancen auf eine nichtmilitä-
rische Beendigung des Entfüh-
rungsdramas verringerte.“
Auch bei der anderen wich-
tigen Zielgruppe verfehlte die
mediale Inszenierung ihr Ziel.
Die Bilder des hilflosen
Schleyer brachten den RAF-
Aktivisten in der linken Szene
wenig Sympathien ein, denn
die Zurschaustellung des Ent-
führungsopfers erinnerte fatal
an die Nationalsozialisten.
Auch diese hatten so genann-
„Geschichte in Wissenschaft
und Unterricht“ veröffentlich-
ten Aufsatz „Opferbilder – Tä-
terbilder“ verweist Terhoeven
darauf, dass die Bilder von
Schleyer „wie eine Bombe“
eingeschlagen hätten. Die Ent-
führer transportierten mit
den Fotos und Videobändern
eine Botschaft des Triumphes:
Der „Boss der Bosse“, die
mächtige Schlüsselfigur der
deutschen Wirtschaft, war
jetzt ein ohnmächtiger Gefan-
gener, ein „Sträfling“ im
„Volksgefängnis“. Die mediale
Verbreitung hatte eine propa-
gandistische, eine psychologi-
sche und eine pragmatische
Funktion: Die Aufnahmen be-
legten, dass das Entführungs-
opfer noch am Leben war.
Gleichzeitig zeigten sie ein-
dringlich die Todesgefahr, in
der sich Schleyer befand. Und
die Bilder sollten die Dramatik
und den Druck auf die Regie-
rung erhöhen, die inhaftier-
ten RAF-Terroristen frei zu las-
sen.
VON HE I DI NI E MANN
GÖTTINGEN. Die Bilder aus
dem Herbst 1977 haben sich
tief eingegraben in das kollek-
tive Gedächtnis der Bundesre-
publik: Hanns Martin Schley-
er, der Präsident des Deut-
schen Arbeitgeberverbandes,
hilflos in die Kamera blickend,
mit einem Schild um den
Hals, das ihn als Gefangenen
der Rote Armee Fraktion (RAF)
ausweist, hinter ihm an der
Wand der fünfzackige Stern
mit der Maschinenpistole.
Für die Entführer war die
Verbreitung dieser Fotos ein
wichtiges strategisches Mittel,
um Politik und Öffentlichkeit
zu beeinflussen. Eine Studie
der Göttinger Historikerin Pe-
tra Terhoeven zeigt jedoch,
dass diese Strategie nicht auf-
ging: Die Wirkung der Bilder
war zwar enorm – doch sie be-
wirkten genau das Gegenteil
von dem, was die Linksterro-
risten erhofft hatten.
In ihrem in der Zeitschrift
Bilder als Waffe
Göttinger Historikerin Terhoeven untersucht
die Medienstrategie der Roten Armee Fraktion
ten „Volksfeinden“ Schilder
um den Hals gehängt, um sie
zu diffamieren und zu demüti-
gen. Wie sollte man sich mit
Praktiken identifizieren, die
zur Ausgrenzungs- und Ge-
waltpolitik der Faschisten ge-
hört hatten? Die „bei der Stan-
ge“ bleibenden Sympathisan-
ten reagierten ebenso zynisch
wie hilflos auf den schwinden-
den Rückhalt, indem sie Plaka-
te mit dem Schleyer-Foto und
dem Zusatz „Kein falsches Mit-
leid“ klebten. Am Ende ging
weder die politische noch die
mediale Strategie der Schley-
er-Entführer auf.
Frappierende Ähnlichkeit
Ein halbes Jahr später er-
weckte die Entführung des ita-
lienischen Spitzenpolitikers
Aldo Moro den Eindruck, als
ob die Terrororganisation
Rote Brigaden ihre deutschen
Gesinnungsgenossen nachge-
ahmt hätte. Sowohl der Tat-
hergang, als auch die Bilder
des Entführungsopfers ähnel-
ten sich frappierend. Tatsäch-
lich, so Terhoeven, verlief der
Transfer jedoch umgekehrt.
Schon seit 1972 waren bei den
italienischen Linksterroristen
Entführungen und die Ver-
breitung von Fotos ihrer Opfer
gängige Praxis gewesen. Der
gleiche Kidnapper, der damals
das Foto des ersten Entfüh-
rungsopfers – eines Siemens-
Managers aus Mailand –
„schoss“, fotografierte einige
Jahre später auch den entführ-
ten Aldo Moro. Er beließ es je-
doch nicht beim Druck auf
den Auslöser, sondern feuerte
später auch die tödlichen
Schüsse auf Aldo Moro ab.
Heute per Video
Heute gehören nicht nur
Entführungen, sondern auch
die Verbreitung von Fotos und
Videos zum festen Repertoire
von Terroristengruppen aller
Couleur. Vor allem islamisti-
sche Organisationen bedienen
sich gezielt der vielfältigen
medialen Auftrittsmöglichkei-
ten. Die Medien müssen sich
indes fragen, ob sie durch die
Verbreitung von ihnen zuge-
spielten Aufnahmen nicht zu
Komplizen werden. Schließ-
lich ist bereits der Druck auf
den Auslöser der Kamera,
auch darauf weist die Histori-
kerin Petra Terhoeven hin, ein
Teil des Gewaltaktes.
1977 entführt und ermordet: Hanns Martin Schleyer. Foto: dpa
1975 entführt und freigelassen:
Peter Lorenz. Foto: dpa
1978 entführt und ermordet:
Aldo Moro.
geworden wäre, wenn die RAF
diesen Krieg „gewonnen“ hät-
te? (...)
Heute bin ich nur noch
schockiert über so viel Eises-
kälte, mit der u. a. Hanns Mar-
tin Schleyer von der RAF hin-
gerichtet wurde und kann
mich nur wundern.
Theresia Flor, Edermünde
allem das Bild, auf dem Hanns
Martin Schleyer vor dem Logo
der RAF sitzt, vor ihm eine Ta-
fel mit der Datumsaufschrift
„13.10.77“, ist bei mir haften
geblieben, weil dies der Tag
meines 18. Geburtstages war
(....) Ich stelle mir heute die
Frage, was sich in Deutschland
verändert hätte, was anders
Gruppe „Roter Morgen“ ver-
trat. Trotz Einschaltung der
Polizei, gab es keine Spur die-
ser Gruppe. (…)
Walter Bronder, Kassel
Noch heute graust es mich,
wenn ich an diese Katastrophe
des Jahres 1977 denke. Wir
waren alle in einem entsetzli-
chen Stresszustand - die Kin-
der einbegriffen. Ich werde
auch das Bild nicht los, als
man den Kapitän des Flugzeu-
ges tot auf den Flughafen
warf. Der Staat hatte richtig
gehandelt, sich nicht diesen
Verbrechern zu beugen. Das
denk ich auch heute noch.
Mein Sohn Nicolas, der damals
12 Jahre alt war, hat das GSG
9-Spiel gebastelt, das ich ih-
nen mitschicke.
Ilse Linkert, Kassel
Ich kann mich noch gut an
die Ereignisse erinnern. Vor
raufhin wirft man die Frau auf
den Boden, reißt ihr die Arme
auf den Rücken. Zwei schwere
Männer knien sich auf ihren
Körper. Das arme Weib kann
nur noch wimmern. (…) Isola-
tionshaft - es ist kennzeich-
nend für unsere Zeit, dass be-
schönigende Worte den wah-
ren Sachverhalt abmildern....
Die Wahrheit ist ein selten’
Kraut. Noch selt’ner, wer es
gut verdaut.
Bernd Warmburg, Freienhagen
Als ich nach dem Tod von
Dr. Ponto den Kommentar Ih-
res Redakteurs las, in dem er
schrieb „Ponto hat ja nur 4000
DM verdient - im Monat“,
schrieb ich einen Leserbrief,
dass dies wie klammheimli-
che Freude klinge und er wohl
ein Sympathisant der RAF sei.
Daraufhin bekam meine Frau
eine telefonische Bombendro-
hung von jemand, der eine
E
in beklemmendes Ge-
fühl hatte ich damals
(...), als der RAF-Terror
alle in Atem hielt. Es war et-
was Neues für die Bundesrepu-
blik und für mich, dass es in
unserem Land Menschen gab,
die anderen einfach das Leben
nahmen, um ihre Ziele und
Ideen durchzusetzen. Ich fand
es richtig, dass sich der Staat
nicht erpressen ließ. (...) Denn
solche Fanatiker sind nicht zu
stoppen. Wir sehen und hören
es täglich (…) weltweit. Gibt
man ihnen nach und lässt die
Komplizen frei, vervielfälti-
gen sich die Grausamkeiten.
Helga Neukirchen, Baunatal
Als Ulrike Meinhof 1972
verhaftet wird, ist sie durch ta-
gelange Schlaflosigkeit über-
müdet und entkräftet. Sie
kann sich kaum auf den Bei-
nen halten, sie ergibt sich den
Beamten widerstandslos. Da-
„Stress auch für die Kinder“
Unsere Leser erinnern sich an die Ereignisse des Terrorjahres 1977
Ein Bankier wird entführt - gehe sechs Felder zurück. Kinder ver-
suchten im Herbst 1977 den Terrorismus auf ihrer Weise zu verar-
beiten. Foto: Keppler
Samstag, 29. September 2007 Zeitgeschehen
SZ−ZG2
e-paper für: 6069489
Der Erfolg der Geiselbe-
freiung von Mogadischu
ist eng mit zwei Namen
verbunden: Hans-Jürgen
Wischnewski und Ulrich
Wegener. Zwei Kurzpor-
träts:
• Hans-Jürgen Wi-
schnewski: Der ehemalige
Gewerkschaftssekretär
und SPD-Bundesge-
schäftsführer war seiner-
zeit Staatsminister im
Kanzleramt mit besten
Beziehungen in die arabi-
sche Welt. Diesen Kontak-
ten verdankt Wi-
schnewski auch seinen
Spitznamen „Ben Wisch“.
Als nervenstarker Krisen-
manager musste er der
entführten „Landshut“
bis nach Somalia hinter-
herreisen. Dort konnten
die 86 Geiseln durch die
GSG 9 befreit werden. Mit
einem Anruf nach Bonn
meldet Wischnewski Voll-
zug: „Die Arbeit ist erle-
digt.“
Der gebürtige Ostpreu-
ße und ehemalige Ent-
wicklungshilfeminister
(1966-68) starb am 24. Fe-
bruar 2005 82-jährig in
Köln.
• Ulrich K. Wegener: 1929
in Jüterbog (Brandenburg)
geboren, war Wegener
erster Kommandeur der
GSG 9. Diese Spezialein-
heit des Bundesgrenz-
schutzes (heute Bundes-
polizei) war 1972 durch
Innenminister Hans-Die-
trich Genscher (FDP) auf-
gestellt worden. Anlass
war die Geiselnahme is-
raelischer Sportler wäh-
rend der Olympischen
Sommerspiele 1972 in
München, die mit einem
Blutbad auf dem Flugha-
fen Fürstenfeldbruck ge-
endet hatte.
Wegener leitete in der
Nacht auf den 18. Oktober
1977 den ersten Einsatz
der GSG 9 auf dem Flug-
hafen von Mogadischu
und war auch persönlich
am Sturm auf die von pa-
lästinensischen Terroris-
ten entführte Lufthansa-
Maschine beteiligt.
Später war er Berater
beim Aufbau von Sonder-
einheiten anderer Länder.
Seit seiner Pensionierung
lebt er in der Nähe von
Bonn und hält weiterhin
Vorträge.
Erfolg in
Mogadischu:
Wischnewski
und Wegener
Serie: Der Deutsche Herbst (Teil 6)
Ulrich Wegener, Chef der
GSG 9. Foto: dpa
Hans-Jürgen Wischnewski,
Krisenmanager. Foto: ???
cherweise durch einen parla-
mentarischen Untersuchungs-
ausschuss. (bli)
• Nächste Folge: Das Ende -
Hanns Martin Schleyer wird
nach 43 Tagen liquidiert.
• Die bislang erschienenen
Teile der Serie „Der Deutsche
Herbst“ können Sie online
nachlesen unter
www.hna.de/politik
• Ein Porträt der ehemaligen
Lufthansa-Stewardess Gabi
Dillmann (heute von Lutzau)
finden Sie auf der Menschen-
Seite der HNA-Samstagausga-
be. Fotos: dpa
nehmen“. Der Körper als letz-
te Waffe, der Selbstmord als
ultimative Tat.
Zu klären wäre heute aller-
dings noch die Frage, ob staat-
liche Organe wussten, dass die
Selbstmorde vorbereitet wur-
den. Denn Recherchen des
„Spiegel“ ergaben kürzlich,
dass die RAF-Führungsspitze
in ihren Zellen über Monate
hin abgehört wurde, wahr-
scheinlich von einem deut-
schen Geheimdienst. Könnte
es also sein, dass die Selbst-
morde bewusst nicht verhin-
dert wurden? Viele Stimmen
verlangen Aufklärung, mögli-
Brigitte Mohnhaupt, Anführe-
rin der so genannten zweiten
Generation der RAF, geschrien
haben soll: „Glaubt ihr denn,
dass die Märtyrer sind, oder
warum heult ihr jetzt? Könnt
ihr euch nichts anderes vor-
stellen als die Opferrolle?“
Peter-Jürgen Boock, bei der
Entführung dabei und später
Aussteiger aus der Roten Ar-
mee Fraktion, hat von diesem
Auftritt Mohnhaupts berich-
tet. Und tatsächlich haben
Baader, Ensslin und die ande-
ren in Kassibern mehrfach da-
von gesprochen, „unser
Schicksal selbst in die Hand zu
möglicht den RAF-
Anhängern nun die
Verbreitung der
These vom staatlich
sanktionierten
Mord, der ganz in
der Tradition von
Nazi-Deutschland
zu sehen sei.
Dass es sich bei
den Ermittlungen
herausstellt, dass die Waffen
über Aktenordner der RAF-An-
wälte in die Zellen geschmug-
gelt und dort versteckt wur-
den, wird geflissentlich igno-
riert. Und warum die Killer im
Staatsauftrag es nicht fertig-
brachten, auch Irmgard Möl-
ler zu liquidieren - diese Frage
lassen die RAF-Sympathisan-
ten unbeantwortet.
Die meisten RAF-Komman-
do-Mitglieder, die Hanns Mar-
tin Schleyer entführt haben
und die derweil in Bagdad sit-
zen, sind bei der Nachricht
vom Tod in Stammheim ge-
schockt, es fließen Tränen. Bis
U
m 0.38 Uhr verbreitet
der Deutschlandfunk
die Nachricht von der
Befreiung der „Landshut“. Die
Meldung wird auch in den Zel-
len der RAF-Gefangenen in
Stuttgart-Stammheim gehört.
Was dann passiert, ist bis heu-
te Anlass von Spekulationen.
Tatsache ist, dass die Justizbe-
amten, die am Morgen die Zel-
len aufschließen, Andreas Baa-
der und Gudrun Ensslin tot
vorfinden. Jan-Carl Raspe ist
schwer verletzt und stirbt we-
nige Stunden später im Kran-
kenhaus, Irmgard Möller über-
lebt verletzt.
Die Obduktion ergibt: Baa-
der hat sich mit einer Pistole
erschossen, ebenso Raspe.
Ensslin erhängte sich mittels
eines Kabels am Fensterkreuz.
Irmgard Möller fügte sich mit
einem Messer schwere Stich-
verletzungen zu. Schusswaf-
fen im Hochsicherheitstrakt
von Stammheim? Das ist
kaum zu glauben. Und das er-
Todesnacht in Stammheim
Nach der Befreiung der „Landshut“ nahm sich die RAF-Spitze das Leben
Geballte Fäuste am Grab: Andreas Baader, Gudrun
Ensslin und Jan-Carl Raspe wurden gemeinsam auf
dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof beigesetzt.
Andreas
Baader
Jan-Carl
Raspe
Gudrun
Ensslin
Irmgard
Möller
das GSG-9-Kommando, um
über Leitern die Maschine zu
stürmen und die Geiseln zu
befreien.
Wischnwewski meldet
Schmidt: „Die Arbeit ist ge-
tan“. Der Kanzler fragt nach
Opfern. Drei Terroristen sind
erschossen worden, eine über-
lebt. Und eigene Verluste? Wi-
schnewski meldet einen ver-
letzten GSG-9-Mann sowie
eine verletzte Stewardess.
Wäre die Aktion schief gegan-
gen oder hätte es viele tote
Geiseln gegeben, „wäre ich
am nächsten Tag zurückgetre-
ten“, sagt Schmidt später.
Anrufe Mahmuds. Offenbar
verhandelt der Flugkapitän
mit dem jemenitischen Behör-
den, vergeblich. Als er in die
Maschine zurückkehrt, habe
Schumann gewusst, was auf
ihn zukomme, erzählt später
die Stewardess Gabi Dillmann.
Er muss im Mittelgang des
Flugzeugs niederknien, und
alle Passagiere müssen mit an-
sehen, wie er von Mahmud er-
schossen wird.
Die Behörden in Aden ge-
ben nun nach und lassen die
Maschine auftanken. Copilot
Jürgen Vietor muss die „Lands-
hut“ in die somalische Haupt-
ihn bei einem weiteren Vorfall
zu erschießen.
Weiter geht es nach Aden
(damals Südjemen). Die Regie-
rung will mit den Terroristen
nichts zu tun haben und lässt
die Landebahnen blockieren.
Da der Treibstoff zur Neige
geht, setzt Schumann die
„Landshut“ auf einem Sand-
streifen neben der Startbahn
auf. Der Kapitän darf nachts
die Maschine verlassen, um
das Fahrwerk zu inspizieren.
Schumann kehrt längere Zeit
nicht zurück - warum, ist bis
heute nicht völlig geklärt -
und reagiert auch nicht auf
VON WOL F GANG BL I E F F E RT
D
eutschland im Herbst
1977, Arbeitgeberpräsi-
dent Hanns Martin
Schleyer ist seit über fünf Wo-
chen in der Hand der terroris-
tischen Roten Armee Fraktion
(RAF). Die Forderungen der
Entführer nach Freilassung ih-
rer inhaftierten Gesinnungs-
genossen hat die Bundesregie-
rung hinhaltend beantwortet.
Man will Zeit gewinnen, um
Schleyer finden und befreien
zu können. Doch die Fahnder
des Bundeskriminalamtes ha-
ben die Spur verloren. Das
Entführungsdrama wird zu ei-
ner quälenden Hängepartie.
Dann, am 13. Oktober, folgt
der befürchtete zweite Schlag
der Terroristen: Ein Komman-
do der palästinensischen PFLP
entführt die „Landshut“, eine
Lufthansa-Maschine mit der
Flugnummer LH 181, die auf
dem Weg von Palma de Mal-
lorca nach Frankfurt am Main
ist. Schlagartig ändert sich die
Situation: Jetzt geht es nicht
mehr nur um die prominente
Geisel Schleyer, sondern auch
um 86 Passagiere, darunter
mehrere Kinder, sowie die
fünfköpfige Besatzung.
Das vierköpfige Kommando
namens Martyr Halimeh geht
mit großer Brutalität vor. Sein
Anführer ist der 23-jährige Zo-
hair Youssif Akache, der sich
Captain Mahmud nennen
lässt und ständig lautstark mit
der Erschießung von Geiseln
droht. Auf dem Füller einer
Passagierin glaubt er einen Ju-
denstern zu erkennen - tat-
sächlich handelt es sich um
das Firmenlogo von Mont
Blanc -, die Frau wird als mut-
maßliche Jüdin gedemütigt
und geschlagen.
Tod in Aden
Es beginnt ein tagelanger
Irrflug. In Rom wird die Ma-
schine aufgetankt, dann geht
es weiter über Larnaka (Zy-
pern) und Bahrain nach Du-
bai. Hier eskaliert die Lage:
Flugkapitän Jürgen Schumann
gelingt es, den Behörden In-
formationen über die Entfüh-
rer zuzuspielen: Zwei Männer
und zwei Frauen. Doch auch
die Entführer erfahren davon.
Captain Mahmud lässt Schu-
mann niederknien und droht,
Fünf Tage in der Hölle
91 Geiseln zitterten um ihr Leben - dann stürmte die GSG 9 in Mogadischu die entführte Lufthansa-Maschine
stadt Mogadischu fliegen.
Schumanns Leiche wird über
eine Notrutsche aus dem Flug-
zeug geschafft, die Entführer
setzen ein Ultimatum, um die
RAF-Mitglieder in Stuttgart
freizulassen. Die Passagiere
werden gefesselt und mit Al-
koholika aus der Bordküche
übergossen. Wenn der nun an-
gebrachte Sprengstoff explo-
diert, sollen die Geiseln besser
brennen. Hitze, Gestank, To-
desangst - für die Passagiere ist
es die Hölle, viele beginnen zu
beten.
Seit Larnaka folgte den Ent-
führern eine Lufthansa-Ma-
schine mit Beam-
ten der Spezialein-
heit GSG 9. Kanz-
leramtsminister
Hans-Jürgen Wi-
schnewski kann
Somalias Präsi-
denten Siad Barre
- seit einiger Zeit
auf Annäherungs-
kurs an den Wes-
ten - überreden,
die GSG 9 einen
Befreiungsver-
such machen zu
lassen. Immerhin
hat die Einheit sol-
che Aktionen
schon mehrfach
geprobt - unter an-
derem an der
„Landshut“. Barre
gibt grünes Licht.
Kanzler Helmut
Schmidt fragt Wi-
schnewski am Te-
lefon: „Können
wir noch was für
euch tun?“ Wi-
schnewski ant-
wortet: „Beten“.
Um die Terro-
risten zu täu-
schen, wird ihnen
gesagt, dass die
RAF-Mitglieder
freikommen und
in wenigen Stun-
den in Mogadi-
schu sein werden.
Inzwischen ist der
18. Oktober ange-
brochen. Um 0:05
Uhr beginnt die
„Operation Feuer-
zauber“: Mit
Blendgranaten
werden die Ent-
führer kurz abge-
lenkt, das nutzt
Dem Terror entronnen: Passagiere der befreiten „Landshut“ verlassen die Luft-
hansa-Maschine, die sie von Mogadischu nach Frankfurt gebracht hat. Kinder
sind dabei, und auch (mit Decke) Horst-Gregorio Canellas (gestorben 1999),
der ehemalige Präsident der Offenbacher Kickers. Foto: dpa
Lebt heute mit Ehemann und
Tochter in Oslo: Souhaila An-
drawes, einzig überlebende
Flugzeugentführerin. Sie wur-
de in Somalia verurteilt und ab-
geschoben, lebte einige Zeit
unerkannt in Norwegen, wo sie
1994 aber festgenommen und
nach Deutschland ausgeliefert
wurde. Dort zu 12 Jahren Haft
verurteilt (Foto), gestattete
man ihr 1997, ihre Strafe in
Oslo abzusitzen. Wegen der
Spätfolgen ihrer Schussverlet-
zungen wurde sie 1999 entlas-
sen
Von den Entführern ermordet:
Jürgen Schumann (37), Flugka-
pitän. Er wurde in seinem letz-
ten Wohnort Babenhausen
(Hessen) beigesetzt. In Bremen
trägt die Lufthansa-Verkehrs-
fliegerschule seinen Namen.
Samstag, 6. Oktober 2007 Zeitgeschehen
SZ−GELD
e-paper für: 6069489
$erle: Der Deutsche Herbst lTell 7I
Den Tod vor Augen: Fines der
Ietzten Fotos SchIeyers.
D0K0MENTATI 0N
,5chleyers klägliche Existenz beendet"
Am 19. Cktober 1977 veröf-
fentlichen die Entführer
Hanns Martin Schleyers ein
letztes Kommunique - ein
Dokument, das noch einmal
die Denkweise der Terroris-
ten zeigt:
,Wir haben nach 4J Tagen
Hanns Martin Schleyers klag-
liche und korrupte Existenz
beendet. Herr Schmidt, der in
seinem Machtkalkül von An-
fang an mit Schleyers Tod
spekulierte, kann ihn in der
Rue Charles leguy in Mul-
house in einem grünen Audi
100 mit 8ad Homburger
Kennzeichen abholen.
Für unseren Schmerz und
unsere Wut über die Massa-
ker von Mogadischu und
Stammheim ist sein Tod be-
deutungslos. Andreas, Cud-
run, |an, lrmgard und uns
überrascht die faschistische
Dramaturgie der lmperialis-
ten zur Vernichtung der 8e-
freiungsbewegungen nicht.
Wir werden Schmidt und
der daran beteiligten Allianz
diese 8lutbader nie verges-
sen. Der Kampf hat erst be-
gonnen! Freiheit durch be-
waffneten antiimperialisti-
schen Kampf!
Kommando Siegfried
Hausner" Ieiche im koIIerraum: Französische PoIizisten untersuchen den
Audi, in dem die Ieiche SchIeyers transportiert wurde.
bensIung. LIne LntIussung Ist
Irühestens 2ċ11 mögIIch.
º 2ċ. AµrII 199S: BeI der Nuch-
rIchtenugentur Reuters KöIn
geht eIn uchtseItIges SchreI-
ben eIn, In dem dIe RAI Ihre
SeIbstuuIIösung Ăerkündete.
DurIn heIßt es unter underem:
,Vor Iust 2S ]uhren, um 14.
MuI 197ċ, entstund In eIner
BeIreIungsuktIon dIe RAI.
Heute beenden ăIr dIeses Pro-
]ekt. DIe StudtguerIIIu In Iorm
der RAI Ist nun GeschIchte.¨
DIe LrkIurung endet mIt eI-
nem Gedenken un dIe Toten
uus den eIgenen ReIhen, eIner
IIste Ăon 26 Numen uus der
Beăegung 2. ]unI, der ReĂoIu-
tIonuren ZeIIen und der RAI
seIbst. DIe 34 OµIer der RAI
ăerden nIcht erăuhnt.
schen Bunk, ăIrd In Bud Hom-
burg durch eIne Bombe um
Strußenrund getötet.
º 1. AµrII 1991: Treuhund-CheI
DetIeĂ Kursten Rohăedder
ăIrd mIt eInem PruĉIsIonsge-
ăehr In seInem Huus In Düs-
seIdorI erschossen.
º 27. Murĉ 1993: SµrengstoII-
unschIug uuI dus kurĉ Ăor der
VoIIendung stehende GeIung-
nIs In WeIterstudt |Hessen)
mIt über 2ċċ KIIogrumm
SµrengstoII. DIe ]VA ăIrd
ăeItgehend ĉerstört und kunn
erst ĂIer ]uhre sµuter In Be-
trIeb genommen ăerden.
DIe meIsten Mordtuten ]e-
ner ]uhre sInd bIs heute keI-
nem sµeĉIeIIen Tuter ĉuĉuord-
nen. IedIgIIch BIrgIt HogeIeId
erhIeIt ăegen eInIger Tuten Ie-
konĉerns MTU, ăIrd In seInem
Huus erschossen.
º S. August 19S5: Der US-SoI-
dut Ldăurd PImentuI ăIrd Ăon
der RAI erschossen, um In den
BesItĉ seIner IdentIIIcutIon
Curd ĉu kommen. DumIt Ăer-
schuIIt mun sIch um nuchsten
Tug ZutrItt ĉur RheIn-MuIn AIr
Buse. BeI eInem SµrengstoII-
unschIug kommen ĉăeI Men-
schen ums Ieben.
º 9. ]uII 19S6: SIemens-Munu-
ger KurI HeInĉ Beckurts und
seIn ChuuIIeur Lckhurd
GroµµIer ăerden In StrußIuch
durch eIne Bombe getötet.
º 1ċ. Oktober 19S6: Der DIµIo-
mut GeroId Ăon BruunmühI
ăIrd In Bonn erschossen.
º 3ċ. NoĂember 19S9: AIIred
Herrhuusen, CheI der Deut-
Andere uus der ĉăeIten RAI-
GenerutIon erhuIten orgunIsu-
torIsche und IInunĉIeIIe HIIIe
uus der DDR. Zehn MItgIIeder
der RAI tuuchen mIthIIIe der
StusI In der DDR unter und
kommen erst nuch dem IuII
der Muuer |19S9) In HuIt. BIs
uuI ChrIstIun KIur sInd uIIe Tu-
ter der ĉăeIten GenerutIon In-
ĉăIschen ăIeder In IreIheIt.
º DIe drItte RAI-GenerutIon,
nuch InIormutIonen des Ver-
Iussungsschutĉes bIs ĉu 25ċ
Personen, sucht dIe KooµerutI-
on mIt underen ăesteuroµuI-
schen Terrorgruµµen des IIn-
ken Sµektrums, ăIe der ActI-
on DIrecte In IrunkreIch und
der BrIgute Rosse In ItuIIen.
º 1. Iebruur 19S5: Lrnst ZIm-
mermunn, CheI des Rüstungs-
N
uch dem Desuster der
AktIon ,BIg ruushoIe¨,
dem Versuch, dIe RAI-
SµItĉe 1977 IreIĉuµressen, un-
dert dIe Rote Armee IruktIon
Ihre StrutegIe: Nun geht es Iust
nur noch durum, Reµrusentun-
ten Ăon Stuut, MIIItur und
WIrtschuIt ĉu ermorden. DIe
ăIchtIgsten LreIgnIsse In den
]uhren nuch 1977:
º 25. ]unI 1979: RAI-AnschIug
uuI den Nuto-OberbeIehIshu-
ber In Luroµu, AIeĄunder
HuIg. SeIn Mercedes ăIrd ĉer-
stört, HuIg und seIn Iuhrer
bIeIben ]edoch unĂerIetĉt.
º Im NoĂember 19S2 ăerden
BrIgItte Mohnhuuµt und
ChrIstIun KIur ĂerhuItet, dIe
mußgebIIch un der SchIeąer-
LntIührung beteIIIgt ăuren.
Das Mordcn ging noch Jahrc wcitcr
34 Tote gehen auf das Konto der RAF - Erst 199S erkIärte sie das Ende des ,Projekts StadtgueriIIa¨
WaItrude SchIeyer über
dIe BeIIeIdsbekundung
HeImut SchmIdts:
,Der emµIIndet es
ăIrkIIch uIs eInen seIner
größten UngIücksIuIIe,
dIe er erIebt hut In seInem
Ieben. Und dus suge Ich
heute noch, duss der
Munn ergrIIIen ăur. Auch
ăenn er nIchts getun hut.
Iür Ihn ăur dus schreck-
IIch. Dus gIuube Ich eIn-
Iuch.¨
HeImut Schmidt über
dIe LreIgnIsse Ăon 1977:
,Der Rechtsstuut hut
nIcht ĉu sIegen, er hut
uuch nIcht ĉu ĂerIIeren,
sondern er hut ĉu eĄIstIe-
ren ... Ich ăürde dus ăIe-
derhoIen, ăus Ich In der
Ăon Ihnen ĉItIerten Rede
Im Bundestug gesugt
hube: Ich bIn ĂerstrIckt In
SchuId - SchuId gegen-
über SchIeąer und gegen-
über Iruu SchIeąer und
gegenüber den beIden Be-
umten In StockhoIm -
dem MIIIturuttuche And-
reus Buron Ăon MIrbuch
und dem WIrtschuItsuttu-
che HeInĉ HIIIeguurt, dIe
umgebrucht ăurden.¨
CabrieIe von Iutzau,
Steăurdess der ,Iunds-
hut¨: ,DIe
RAI Ist eIn
deutsches
Truumu,
desăegen
Iusst dus
Interesse
un Ihrer
GeschIch-
te nIcht
nuch: Dus
erste MuI seIt dem KrIeg
gub es orgunIsIerte Ge-
ăuIt In der Bundesreµub-
IIk - und dunn uusgerech-
net Ăon ăohI genuhrten,
gebIIdeten BürgerkIn-
dern ... Ls ăuren ]unge
Menschen mIt InteIIektu-
eIIen IuhIgkeIten.¨
jürgen Vietor, Co-PIIot
der ,Iundshut¨, und bIs
ĉu seInem
Ruhe-
stund 737-
PIIot beI
der IuIt-
hunsu:
,Wenn Ich
heute uuI
dIe Ge-
schIchte
der RAI
ĉurückschuue, Ist dIeser
BIIck nIcht Ăon großen
LmotIonen begIeItet.
Denn dIe TerrorIsten hu-
ben nIchts Ăon dem, ăus
sIe ăoIIten, erreIcht.¨
º LmµIehIensăerte Bü-
cher:
,Iür dIe RAI ăur er dus
Sąstem, Iür mIch der Vu-
ter¨ - Anne SIemens` Ge-
sµruche mIt AngehörIgen
Ăon RAI-OµIern, PIµer-
VerIug, 19,9ċ Luro
,TodessµIeI. Von der
SchIeąer-LntIührung bIs
MogudIschu - eIne doku-
menturIsche LrĉuhIung¨
Ăon IIImemucher HeIn-
rIch BreIoer, KIeµenheuer
8 WItsch
,Der Buuder MeInhoI
KomµIeĄ¨ Ăon SteIun
Aust, SµIegeI-VerIug,
12 Luro
Die bisIang erschienenen
TeiIe der Serie ,Der Deut-
sche Herbst" können Sie
onIine nachIesen unter
www.hna.de[poIitik
Zitatc zum
Dcutschcn
Hcrhst
jürgen
Vietor
CabrieIe
von Iutzau
VON WOI F CANC ßI I F F F F RT
D
Ie gegIückte BeIreIung
der GeIseIn uus der ent-
Iührten IuIthunsu-Mu-
schIne ,Iundshut¨ ĂermItteIt
dem Iund Iür eInen Augen-
bIIck eIn kuum gekunntes koI-
IektIĂes GIücksgeIühI. Duss
sIch In Stuttgurt-StummheIm
dIe InhuItIerten RAI-AnIührer
- oIIenbur uIs ReuktIon uuI dIe
GSG9-AktIon In MogudIschu -
dus Ieben genommen huben,
berührt dugegen dIe ăenIgs-
ten. Aber uIIe uhnen, duss dIe
GeIuhr Iür dus Ieben Ăon
Hunns MurtIn SchIeąer nun
noch größer geăorden Ist.
Denn Gnude kunn Ăon den bIs-
Iung eIskuIt oµerIerenden Ter-
rorIsten nIcht erăurtet ăer-
den.
Peter ]ürgen Boock, Im Seµ-
tember 1977 MItgIIed der Lnt-
Iührungskommundos und eI-
ner der Todesschütĉen Ăon
KöIn, gIbt heute dIe dumuIs
uIIgemeIn herrschende MeI-
nung der RAI-MItgIIeder ăIe-
der: ,Der muss ]etĉt drun gIuu-
ben.¨ LIn Iür und WIder seI
nIcht dIskutIert ăorden.
Ðrcì Srhussc
SchIeąer ăIrd uus seInem
Ietĉten Versteck - ăuhrscheIn-
IIch In BrüsseI - erneut In den
KoIIerruum eInes Autos Ăer-
Iruchtet und gen Süden geIuh-
ren. In eInem bIs heute unbe-
kunnten WuIdstück muss er
uussteIgen und ăIrd soIort mIt
dreI Schüssen In den HInter-
koµI getötet. WuhrscheInIIch
Ăon SteIun WIsnIeăskI und
RoII CIemens Wugner - doch
uuch dus Ist ungekIurt.
Und ĂIeIIeIcht uuch nIcht
dIe entscheIdende Iruge.
Denn, so Peter ]ürgen Boock
sµuter eInmuI In der Rück-
.Wir sind in scincr Schu!d¨
Nach ,Landshut¨-Befreiung und Stammheim-SeIbstmorden erschoss die RAF Hanns Martin SchIever
schuu: ,Dus hutte ]eder Ăon
uns gemucht¨.
Am MIttăoch, 19. Oktober,
sechseInhuIb Wochen nuch
der SchIeąer-LntIührung, meI-
det sIch eIne unbekunnte Iruu
teIeIonIsch beI der Deutschen
Presseugentur In Stuttgurt. SIe
dIktIert eIner ĂerbIüIIten MIt-
urbeIterIn eIne Ietĉte Nuch-
rIcht des ,Kommundos SIeg-
IrIed Huusner¨ mIt der MItteI-
Iung, duss SchIeąer ermordet
ăorden Ist |sIehe Dokumentu-
tIonskusten).
DIe LuµhorIe über dIe GeI-
seIbeIreIung Ăon MogudIschu
ăeIcht Lntsetĉen und Truuer,
uIs In MuIhouse dIe IeIche
SchIeąers geIunden ăIrd.
Srhmìdt nchcn dcr Wìtwc
Am 25. Oktober 1977 Ăer-
summeIn sIch dIe SµItĉen Ăon
Stuut und GeseIIschuIt ĉur
TruuerIeIer Iür Hunns MurtIn
SchIeąer In der Stuttgurter
StIItskIrche. BundeskunĉIer
HeImut SchmIdt |SPD), Iür den
Ăon ĂornhereIn Ieststund, duss
den Iorderungen der LntIüh-
rer nuch IreIIussung der InhuI-
tIerten RAI-SµItĉe nIcht nuch-
gekommen ăIrd, sItĉt neben
WuItrude SchIeąer, dIe ăo-
chenIung um dus Ieben Ihres
entIührten Lhemunnes ge-
bungt hut.
BundesµrusIdent WuIter
ScheeI sugt, un dIe WItăe ge-
rIchtet: ,Hunns MurtIn SchIeą-
er Ist gestorben. Iür uns uIIe ...
nIcht nur Iür uns Deutsche Ist
dIe Chunce erhuIten gebIIe-
ben, dIe GeIuhr des TerrorIs-
mus ĉu bunnen. WIr neIgen
uns Ăor dem Toten. WIr ăIs-
sen, ăIr sInd In seIner SchuId.
Im Numen der deutschen Bür-
ger bItte Ich SIe, dIe AngehörI-
gen Ăon Hunns MurtIn SchIeą-
er, um Vergebung¨.
Fin schwerer Cang: ßundeskanzIer HeImut Schmidt kondoIiert WaItrude SchIeyer, deren Mann er-
mordet wurde, weiI der RegierungscheI den Forderungen der RAF nicht nachgab. ¯å¯Úcâg¾D
Sumstug, 13. Oktober 2ċċ7 Zeltgeschehen
SZ-ZG2

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